Hans-Dietrich Genscher im Gespräch: „Von einer Sonderrolle Deutschlands kann nicht die Rede sein“
Im Interview mit der F.A.Z. spricht der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher über den Weg zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens vor genau 20 Jahren.
Im Dezember 1991 beschloss die Europäische Gemeinschaft die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Damals wurde in Jugoslawien längst geschossen, Vukovar war zerstört, der Krieg tobte. Wieso hält sich vor allem in der englischsprachigen Literatur dennoch die Behauptung, Deutschland habe durch die „vorzeitige Anerkennung“ Sloweniens und Kroatiens Jugoslawien zerstört, es sei gar für den Krieg verantwortlich?
Das sind natürlich auch die Versuche einiger anderer seinerzeit Beteiligter, nachträglich ihre damaligen Irrtümer zu bewältigen. Deutschland war zuvor übrigens stets entschieden für den Zusammenhalt Jugoslawiens eingetreten. Es war das Land, das zu Jugoslawien die besten Beziehungen pflegte.
Obwohl die Hallstein-Doktrin, also der Abbruch der Beziehungen zu einem Staat, der die DDR anerkannte, erstmals auf Jugoslawien angewendet wurde.
Das war lange vorher. Als ich Minister war, waren die Beziehungen vorzüglich. Wir waren diejenigen, die dafür sorgten, dass die Annäherung Jugoslawiens an die Europäische Gemeinschaft erleichtert wurde. Das erklärt auch, warum der jugoslawische Außenminister Budimir Loncar mich einlud, Mitte Juni 1991 nach Belgrad zu kommen, um mit den verschiedenen Gruppen zu sprechen. Dort bin ich dann das erste und einzige Mal Slobodan Milosevic begegnet. Da war mir vollkommen klar, der Mann will Groß-Serbien.
Hat er das so gesagt?
Nein, aber es war offenkundig. Es war der Eindruck, den er hinterließ. In der Europäischen Gemeinschaft wurde dann auf Vorschlag Frankreichs eine Kommission gebildet, unter Vorsitz des französischen Verfassungsgerichtspräsidenten Robert Badinter und seines deutschen Kollegen Roman Herzog als Stellvertreter. Die Kommission erhielt den Auftrag, Regeln für die Anerkennung von Staaten in Europa zu entwickeln. Das geschah mit dem Blick auf Jugoslawien im Frühherbst 1991.
Welche Rechtsstellung hatte diese Kommission?
Es war im Grunde eine vom Vertrauen der Mitgliedstaaten getragene Sachverständigenkonferenz.
Deren Vorsitzender zum Glück kein Deutscher war, denn sonst wären noch ganz andere Legenden entstanden.
Dafür habe ich gesorgt. Man muss dazu wissen, dass Badinter Mitterrand sehr nahe stand. Die Kommission hatte also, was auch immer sie empfehlen würde, das besondere Vertrauen des französischen Präsidenten. Außer der völkerrechtlichen gab es aber auch eine politische Entwicklung. In vielen Ländern mehrten sich die Stimmen für die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Margaret Thatcher – schon im Ruhestand – sprach sich auch dafür aus. Außerdem gab es eine starke Unterstützung durch die Außenminister Belgiens und Dänemarks. Der dänische Außenminister sah das unter dem Gesichtspunkt der baltischen Staaten. Der damalige Ratsvorsitzende, der niederländische Außenminister Hans van den Broek, setzte schließlich eine Frist: Er sagte, wenn das Problem nicht binnen zwei Monaten durch eine friedliche Lösung entschieden sei, werde die Europäische Gemeinschaft zur Anerkennung schreiten müssen. Diese Frist war Anfang Dezember abgelaufen. Vom 16. auf den 17. Dezember hatten wir dann jene Sitzung, deren Beschluss lautete, dass wir Slowenien und Kroatien mit Wirkung vom 15. Januar 1992 anerkennen. Daran hielt sich Deutschland.
Aber Deutschland sprach die Anerkennung schon am 23. Dezember 1991 aus.
Wir haben nicht vorher anerkannt. Wir haben nur den Beschluss der Anerkennung vorher gefasst. Das wurde auch deshalb gemacht, weil Helmut Kohl als Bundeskanzler gesagt hat, die Bundesregierung werde in dieser Frage noch vor Weihnachten entscheiden. Das hatte er schon vorher angekündigt. Es war eine Kabinettsbefassung notwendig, die Anerkennung von Staaten ist schließlich nicht irgendeine Nebensache. Diese Kabinettssitzung fand nach meiner Rückkehr aus Brüssel statt. Ich berichtete, und das Kabinett bestätigte den Beschluss zur Anerkennung zum 15. Januar 1992. Von einer Sonderrolle Deutschlands kann also nicht die Rede sein.
Aber als Tag der deutschen Anerkennung gilt doch der 23. Dezember 1991.
Nein, nein, nein! Auf der letzten Kabinettssitzung des Jahres, am 19. Dezember 1991, einer ganz normalen Sitzung, bestätigten wir, dass die Bundesrepublik Deutschland Slowenien und Kroatien anerkennt, auch durch die Eröffnung von Botschaften am 15. Januar 1992. Vorher passierte überhaupt nichts. Wir bereiteten das nur vor. Damit das unmissverständlich ist: Ich habe am Ende der Sitzung in Brüssel am 17. Dezember 1991 zweimal gesagt, dass ich vorhabe, auf unserer nächsten Kabinettssitzung über den europäischen Beschluss zur Anerkennung zu berichten, damit er bei uns bestätigt werden kann. Und es wurde beide Male festgestellt, es sei absolut legitim, dass eine Regierung die Entscheidung vorher trifft. Nach dieser Absprache haben wir dann gehandelt. Wir hätten auch sagen können, ab sofort. Das haben wir aber nicht getan, sondern uns an den gemeinsamen europäischen Beschluss gehalten. Der kam übrigens auch zustande durch das Eingreifen des englischen Außenministers Hurd, der in etwa sagte: „Ich möchte mal feststellen, Deutschland hat jetzt Monate gewartet mit dieser Entscheidung. Deutschland hat sich korrekt daran gehalten, dass wir gemeinsam handeln. Es ist jetzt Zeit. Das können wir nicht noch mal aufschieben. Deshalb müssen wir das heute entscheiden.“ Das war der entscheidende Moment.
Woher kommt dann die gegenteilige Außenwahrnehmung, laut der Deutschland vorgeprescht sei und seine Partner unter Druck gesetzt habe?
Eine gewisse Rolle spielt dabei, dass Jugoslawien Teilen der deutschen Linken als Beispiel für den „Dritten Weg“ galt. Es gab da eine Verbundenheit. Aber die SPD hat die Anerkennung viel früher gefordert. Karsten Voigt und Norbert Gansel machten im Mai 1991 einen Besuch in Jugoslawien. Danach schrieben sie mir einen eher mahnenden Brief, im Bezug auf Jugoslawien zu handeln. Sie sprachen sich auch für eine Anerkennung aus. Zu dem Zeitpunkt hatten diese Staaten noch nicht einmal ihre Unabhängigkeit erklärt, es wurde nur darüber diskutiert. Im Bundestag gab es aus allen Fraktionen eine starke Bewegung, die die Anerkennung am liebsten früher gehabt hätte. Bundeskanzler Kohl und ich waren uns aber einig: Deutschland wird das nur machen, wenn alle anderen zustimmen. Und es lag inzwischen ja auch der Bericht der Badinter-Kommission vor, in dem festgestellt wurde, dass Jugoslawien als Staat in Auflösung begriffen war. Die Entscheidung zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vollzog also nur eine Entwicklung nach, die längst unumkehrbar war.
Parallel zu den Ereignissen in Jugoslawien zerfiel auch die Sowjetunion – allerdings vergleichsweise friedlich.
Weil die Voraussetzungen ganz andere waren als in Jugoslawien. In Moskau schlug Boris Jelzin, um die Führung der Sowjetunion loszuwerden, den Präsidenten der anderen Republiken eine Neugründung vor, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. In Jugoslawien lief es anders, weil Milosevic die Zeichen der Zeit nicht erkannte. Das erste Jugoslawien war nach seiner Gründung zusammengehalten worden durch die Angst vor Deutschland oder Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land unter anderem zusammengehalten durch die charismatische Persönlichkeit Titos und durch die Sorge, Stalin könne den Versuch unternehmen, Jugoslawien in seinen Machtbereich zu zwingen. Nachdem nun Gorbatschow in Moskau eine vollkommen neue Politik betrieb, war diese Sorge überholt. Man hätte versuchen müssen, Jugoslawien durch eine immer engere Kooperation zusammenzuführen. Es ist doch bemerkenswert, dass die Kosovo-Albaner 1989 nicht die Unabhängigkeit forderten, sondern nur die Rückgabe der Autonomie oder allenfalls den Status einer Republik. Raus aus Jugoslawien wollten die Kosovo-Albaner damals nicht. Als größter Teilstaat hätte Serbien die Rechte der anderen eher stärken müssen, statt sie einzuschränken – aber Milosevic tat das Gegenteil. Die Aufhebung der Autonomie der Vojvodina und des Kosovos, das Aufhalten des Rotationsmechanismus an der Staatsspitze – all das waren Signale, die in eine andere Richtung deuteten. Das führte letztlich zu den Sezessionsentwicklungen.
Aus dem Zerfall Jugoslawiens ist eine Kleinstaatenwelt entstanden, die den Europäern auch nach dem Ende der Kriege Sorgen bereitet: ineffiziente, von latenten oder offen ausgetragenen ethnischen Konflikten geprägte Staaten, von denen einer, das Kosovo, nicht einmal von allen EU-Mitgliedern als solcher anerkannt wird.
Man sollte der Phantasie der Geschichte nicht vorgreifen. Es werden schon Lösungen gefunden werden für das Kosovo. Wichtig ist, dass die Perspektive der Mitgliedschaft die einzige Antwort ist, weil diese Konflikte innerhalb einer Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische Union darstellt, am leichtesten zu handhaben sind.
Wie auf Zypern?
Da stecken andere Einflüsse dahinter, Einflüsse von außen.
Die jüngste Krise dürfte neuerlichen Erweiterungen aber für lange Zeit einen Riegel vorgeschoben haben. Der politische Wille zur Erweiterung ist kaum noch da.
Das entzündet sich an der Frage einer türkischen Mitgliedschaft in der EU. Thesen gegen die Aufnahme der Türkei kommen immer kurz vor Wahlen auf. Es gibt Leute, denen vor Wahlen offensichtlich keine anderen Argumente einfallen.
Es gab unlängst eine Wahl, bei der die Frage eines türkischen EU-Beitritts keinerlei Rolle spielte – die Parlamentswahl in der Türkei.
Das kann ich verstehen. Ich würde mich auch nicht in eine Lage drängen, etwas als Ziel zu verkünden, von dem mir laufend bescheinigt wird, dass ich es nicht erreichen dürfe. Betrachtet man aber die wachsende wirtschaftliche Leistungskraft und die wesentliche, stabilisierende Rolle der Türkei in der Region, dann lässt sich nur feststellen, dass der Westen einen schweren Fehler beginge, dieses Land auf Dauer fern zu halten.
Die EU wird aber auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt sein.
Im Augenblick geht es in der EU darum, eine Krise zu bewältigen. Das muss schnell geschehen. Das muss man jetzt politisch lösen und danach muss man das, was dauerhaft sein muss, einfließen lassen in neue institutionelle und sonstige Regelungen. Das Entscheidende ist, dass jetzt gehandelt wird. Es ist aber auch klar, dass eine gemeinsame Währung Institutionen braucht, die eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik verlangen. Das muss man nachholen.
Hätten sich alle Mitglieder der Eurozone an die bestehenden Stabilitätsvorgaben gehalten, wäre die Eurozone nicht in die Krise geraten.
Wir haben die Krise heute, weil die rot-grüne Regierung bereit war, die Stabilitätskriterien aufzuweichen. Weil also Deutschland ganz am Anfang selbst ein Defizitsünder war und für die eigenen Sünden bereit war, auch die Sünden anderer zu übersehen. Wichtig ist, dass man Sanktionen automatisch durchsetzt.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.12.2011). URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/hans-dietrich-genscher-im-ges…