Die Leichensynode von Den Haag
Fremde Federn: Klaus-Peter Willsch
Im Jahr 897 ereignete sich in Rom ein denkwürdiges Spektakel. Der frisch gewählte Papst Stephan VI., mit Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seiner Wahl konfrontiert, ließ seinem Vorgänger Formosus neun Monate nach dessen Tod den kirchenrechtlichen Prozess machen. Hierzu wurde Formosus‘ Leiche exhumiert, in päpstliche Gewänder gekleidet und auf einem Thron platziert. Der Verstorbene wurde in einem dreitägigen Prozess angeklagt und schuldig gesprochen. Das Urteil der Leichensynode stand von Anfang an fest. Stephan benötigte es, um seine eigene Legitimität abzusichern.
Eine vergleichbare Farce ereignete sich am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien am 15. April 2011. An diesem Tag befand eine Kammer des Gerichts den verstorbenen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman für schuldig, die Vertreibung der aufständischen serbischen Bevölkerung bei der Rückeroberung der serbisch besetzten Gebiete in Kroatien geplant und ausgeführt zu haben. Sie stellte ihn so mit einem anderen Toten gleich: mit Slobodan Milošević.
Dieses Urteil ist empörend, ungerecht und gefährlich.
Empörend, denn das Gericht liefert damit der von den „besonderen Freunden“ Kroatiens bestenfalls praktizierten Politik der Äquidistanz zu Aggressor und Opfer nachträglich den moralischen Überbau. Da es Den Haag im Gegensatz zur römischen Kurie des 9. Jahrhunderts nicht erlaubt ist, Verstorbenen den Prozess zu machen, hat es die kroatischen militärischen Führer Ante Gotovina und Mladen Markač für 24 beziehungsweise 18 Jahre ins Gefängnis geschickt. Die beiden wurden als Exekutoren eines vermeintlichen Kriegsverbrechens verurteilt, dessen Urheberschaft in diesem Urteil dem verstorbenen kroatischen Präsidenten zugewiesen wird. Und somit auch dem jungen kroatischen Staat als Erbsünde zufällt.
Ungerecht ist das Urteil, weil es zur Begründung eine falsche These mit unhaltbaren Indizien stützt und zudem ausgerechnet jene verurteilt, die am wenigsten zu tatsächlich vorgefallenen Verbrechen beigetragen haben.
Was war geschehen? Mitte 1995 begann Präsident Tudjman mit Rückendeckung der Vereinigten Staaten eine militärische Offensive, die sogenannte Operation „Sturm“. Dieser Feldzug der kroatischen Armee führte nicht nur zur Rückeroberung serbisch besetzter Gebiete in Kroatien, sondern durch die Ver-lagerung der Kämpfe nach Bosnien und die Zurückdrängung der bosnischen Serben auch zur Beendigung der serbischen Aggression und zum Friedensvertrag von Dayton. Das militärische Hauptverdienst hierfür gebührt dem kroatischen General Gotovina.
Bei der Rückeroberung der serbischen Gebiete in Kroatien floh der Großteil der Serben vor den kroatischen Truppen. Unbestreitbar sind an der serbischen Bevölkerung Verbrechen begangen worden: rückkehrende Kroaten übten Rache und Vergeltung an den verbliebenen Serben – zumeist Greisen, die nicht die Kraft zur Flucht hatten. Serbische Häuser wurden geplündert und gebrandschatzt. Die Zahl der identifizierbaren Ermordeten wird auf 200 bis 700 geschätzt. Die kroatische Justiz hat leider nur einen Teil dieser Fälle verfolgt und beileibe nicht alle Täter zur Verantwortung gezogen.
Im Gegensatz zu seinem Auftrag hat das Haager Gericht allerdings weniger Interesse an den konkreten Verbrechen gezeigt – vielleicht, weil deren Ausmaß und Verteilung nicht die zu beweisende Arbeitsthese eines geplanten Verbrechens größeren Ausmaßes durch die kroatische Führung stützen. Deshalb wurde der direkte Weg auf einen Platz in den Geschichtsbüchern gesucht: Die Flucht der Serben sei keine Flucht, sondern eine geplante und durch die Taktik des kroatischen Militärs bewirkte Vertreibung gewesen. Um dieses unterstellte verbrecherische Vorhaben plausibel zu machen, konstruiert das Gericht eine Erzählung, die von Tudjmans Wunsch von einem homogenen Nationalstaat handelt, von einem als verräterisch entlarvten Satz, den er vor der Operation geäußert hat, und von der Behinderung serbischer Rückkehrer in den Jahren nach der Offensive. Dies wird verknüpft mit konkreten Handlungen, etwa einem als „ungesetzlich“ qualifizierten Einsatz von Artillerie (dies soll eine schwächere Form von übermäßig sein; insgesamt wurde ein Zivilist durch Artillerieeinsatz getötet), und dem Offenhalten von Fluchtwegen für die fliehenden Serben (einer Maßnahme, die mit Sicherheit viele Menschenleben gerettet hat). Kurz-um: Es wird im Krieg notwendiges und angemessenes Verhalten zum Beleg einer im Kern unbeweisbaren Absicht angeführt.
Nun ist Tudjman tot, die Bewertung seiner Rolle in den im Wesentlichen von Miloševićs Aggression getriebenen Kriegen nach der Auflösung Jugoslawiens sollte man den Historikern überlassen.
Gefährlich ist am Urteil, dass alle Soldaten, die im Kampf Entscheidungen treffen, einer willkürlichen, politischen und unkontrollierbaren internationalen Gerichtsbarkeit unterworfen werden. Macht dieses Bespiel Schule, so haben die Vereinigten Staaten recht darin, ihr Militär nicht der internationalen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Das Bundesverteidigungsministerium sollte das Berufungsverfahren Gotovinas beobachten und seine Schlüsse daraus ziehen.
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verhandelt zur Zeit die letzten Prozesse. Er hat im Wesentlichen die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, enttäuscht. Dass Slobodan Milošević angeklagt, aber nicht verurteilt worden ist, weil er zuvor verstarb, ist dem Gerichtshof nicht vorzuwerfen – wohl aber, dass der legitime Kampf gegen einen äußeren Aggressor über den gleichen Leisten geschlagen wurde wie der planmäßig mit großer Brutalität vorgetragene Angriffskrieg selbst.
Der Autor ist CDU-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Kroatischen Parlamentariergruppe.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.05.2011). URL: http://www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/politik/fremde-federn-…