FAZ (16.11.2012) – Freispruch in Den Haag – Entlastung und Erleichterung
Jahrelang stand Kroatien unter dem Verdacht, die nationalistischen Schlacken der Tudjman-Ära nichtrestlos abgelegt zu haben. Diesen Vorwurf ist das Land nun los: Nach dem Freispruch von Gotovinaund Markac jubelt ganz Kroatien.
Die Kriegsveteranen hatten ihre Uniformen angelegt und lauschten gespannt den Worten desamerikanischen Richters Theodor Meron, die über einen Großbildschirm auf den Hauptplatz von Zagrebübertragen wurden. Es war nicht das erste Mal.
An derselben Stelle hatten am 15. April 2011 Tausende mitverfolgt, wie Richter Alphons Orie das ersteUrteil des Kriegsverbrechertribunals der Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien gegen diekroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markac verkündete. Damals wurde Gotovina zu 24Jahren und Markac zu 18 Jahren Haft verurteilt, was die Veteranen zu Buhrufen animierte. Dieses Malhofften die meisten auf eine Strafminderung, aber auf einen Freispruch wagten sie nicht zu hoffen.
Tausende bejubelten den Freispruch
Doch je länger Richter Meron sprach, desto mehr wuchs die Erregung. Als er auf die Beschießung derStädte Knin, Benkovac, Obrovac und Gracac während der „Operation Sturm“ im August 1995 zu sprechenkam und die Auffassung des Ersturteils zurückwies, sie sei unrechtmäßig erfolgt, gab es den erstenApplaus. Am Ende jubelten Tausende, als Meron den Freispruch verkündete. Betagte Kriegsveteranenfielen einander mit Tränen in den Augen in die Arme.
Die Nationalhymne wurde angestimmt, Sektkorken knallten, da und dort wurde getanzt. Es war, als hätteplötzlich ein Albtraum geendet. Die Kroaten maßen dem Haager Urteil eine historische Botschaft zu:Es gehe nicht nur um Gotovina und Markac, es gehe um die Ehre ihrer Nation, um die Bewertung ihresVerteidigungskrieges gegen die großserbische Aggression und um ihren Platz in der Geschichte.
Das Berufungsgericht entkräftete das Urteil erster Instanz in allen wesentlichen Punkten. Im Mittelpunktdes Prozesses gegen die beiden Generäle stand die Beschießung der Serbenhochburg Knin und der dreianderen Städte durch die kroatische Artillerie. Die erste Instanz hatte ihr Urteil vorwiegend auf eineAnalyse der Einschläge der Geschosse gestützt. Dabei wurde jeder Einschlag, der mehr als 200 Meterentfernt von einem militärischen Ziel erfolgte, als das Ergebnis eines gezielten Schusses gewertet.
Feuer auch auf bewegliche Ziele
Dieser „200-Meter-Standard“, wie ihn Richter Meron nannte, war nach Überzeugung desBerufungsgerichts willkürlich gewählt worden, ohne zuverlässige Angaben über die unterschiedlichenlokalen Bedingungen in den vier Städten, wie Windstärke und Lufttemperatur, zur Verfügung zu haben.Im Falle Knin müsse zudem die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass die Artillerie das Feuerauch auf bewegliche Ziele gerichtet habe.
Die Frage der Beschießung der Städte ist deswegen zentral, weil die Anklage ihre Beweisführung überdie Existenz eines kroatischen Generalplans zur „ethnischen Säuberung“ der zurückeroberten Gebietehauptsächlich darauf gestützt hatte. Nach der Ansicht der Anklage, die vom Erstgericht übernommen
wurde, habe es ein „gemeinsames kriminelles Unternehmen“ (JCE – joint criminal enterprise) gegeben,an dem die damalige politische und militärische Führung Kroatiens einschließlich der Generäle Gotovinaund Markac beteiligt gewesen sei.
Dieses JCE habe die Absicht verfolgt, im Zuge der Befreiung der sogenannten Krajina die serbischeZivilbevölkerung so zu terrorisieren, dass sie ihre Heimat verlassen und nach Serbien flüchten würde. DieBeschießung ziviler Wohngegenden in den Städten der Krajina sei dabei entscheidend gewesen.
„Weit verbreitete, systematische Angriffe“
Das Urteil von April 2011 hatte die Anklageschrift in diesem politisch brisantesten Punktbestätigt: „Bestimmte Mitglieder der kroatischen politischen und militärischen Führung“, sagteRichter Orie damals, hätten spätestens im Juli 1995 ein JCE in die Wege geleitet, um die Serben derKrajina „durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt“ auf Dauer zu entfernen.
An erster Stelle nannte er den Staatsgründer und ersten Präsidenten Franjo Tudjman, gefolgt vomdamaligen Verteidigungsminister Gojko Šušak sowie ranghohen kroatischen Offizieren. Währendder „Operation Sturm“ im Sommer und Herbst 1995 hätten die kroatischen Streitkräfte undSpezialeinheiten der Polizei zahlreiche Verbrechen begangen, darunter Mord, grausame Behandlung vonZivilisten, mutwillige Zerstörung von Eigentum, Plünderungen und Deportationen.
Aus der relativ kurzen Zeit, in der sich in der Region zahlreiche Verbrechen ereignet hätten, zog dasErstgericht die Schlussfolgerung, dass es sich um einen „weit verbreiteten und systematischen Angriffgegen die serbische Zivilbevölkerung“ gehandelt habe, an dem sich Gotovina und Markac beteiligthätten.
Die Zurückweisung der Ansicht, die kroatische Artillerie habe nichtmilitärische Ziele in Knin und denanderen Städten beschossen, spricht also nicht nur die beiden Generäle frei, sondern entlastet auch denkroatischen Staat, weil das Tribunal die „Operation Sturm“ zur Befreiung der von serbischen Rebellenbesetzten Gebiete als solche nicht mehr mit einem Verbrechen gleichsetzt.
Dies erklärt die Erleichterung, mit der die kroatischen Politiker quer durch die Parteien das Urteilaufnahmen. Über all die Jahre stand Kroatien besonders in Großbritannien und in den Niederlandenunter dem Generalverdacht, die nationalistischen Schlacken der Tudjman-Ära nicht restlos abgelegt zuhaben. Diesen Verdacht ist es jetzt los, was angesichts der zunehmenden Kritik an der EU-BeitrittsreifeKroatiens einen nicht zu unterschätzenden Erfolg darstellt.
Das Haager Tribunal bestreitet in seinem Urteil nicht, dass es im Zuge der Befreiung der von serbischenRebellen besetzten Gebiete zu Verbrechen gekommen ist, ordnet sie jedoch nicht einem Generalplanzu. Die der Verurteilung erster Instanz zugrundeliegende Behauptung, Gotovina und Markac hättendiese Gewalttaten nicht verhindert, sondern billigend in Kauf genommen und nicht geahndet, wiesdas Berufungsgericht als nicht bewiesen zurück. Offen ist, ob die Urheber dieser Verbrechen je zurVerantwortung gezogen werden.
Quelle: FAZ (16.11.2012), Karl-Peter Schwarz.
URL: www.faz.net/aktuell/politik/freispruch-in-den-haag-entlastung-und-erleichterung-11962945.html