Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme
Der „Chancenspiegel“ 2017 der Bertelsmann Stiftung erfasst die Entwicklung des deutschen Schulsystems von 2002 bis 2014 unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit. Er wurde vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS), TU Dortmund, und dem Institut für Erziehungswissenschaft (IfE), Universität Jena, erarbeitet.
Vier Bereiche werden mit Hilfe von Daten aus der amtlichen Statistik und Schulleistungsuntersuchungen in den Blick genommen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Förderung von Kompetenzen und Vergabe von Zertifikaten. Im Ländervergleich wird die „Integrationskraft“ an der Quote inklusiver Beschulung und Ganztagsangeboten gemessen. „Durchlässigkeit“ bemisst sich nach der Chance auf einen Gymnasialbesuch, der Wiederholerquote und dem Einmünden in das Berufsbildungssystem mit Hauptschulabschluss. „Kompetenzförderung“ bezieht sich auf die Ergebnisse der bekannten Schulleistungsstudien. Bei der „Zertifikatsvergabe“ werden das Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, und die Chance auf den Erwerb der Hochschulreife erfasst.
Der Chancenspiegel betont, dass alle Bundesländer trotz gewachsener Herausforderungen ihre Schulsysteme insgesamt leistungsstärker und chancengerechter gemacht haben – allerdings auf unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlichem weiterem Handlungsbedarf. So haben alle Länder begonnen, die Ganztagsschule auszubauen, und fördern das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf; Schulsysteme sind immer durchlässiger; in Leistungsstudien haben sich die Schülerkompetenzen verbessert, wenn auch zuletzt eher stagnierend. 2002/03 besuchte knapp jeder zehnte Schüler eine ganztägige Schule, 2014/15 war es bereits jeder Dritte. 2002/03 besuchten 13,3 %, 2014/15 schon 34,1 % der Förderschüler eine inklusive Schule. Während 2002 jeder Dritte aller Schulabgänger die Hochschulreife erwarb, waren dies 2014 mehr als die Hälfte aller Schüler. Beendeten damals 9,2 % Schüler eines Altersjahrgangs ihre Pflichtschulzeit ohne Hauptschulabschluss, traf dies 2014 nur noch bei 5,8 % zu. Der Schulabbruch ohne Hauptschulabschluss bei ausländischen Schülern konnte ebenfalls gesenkt werden – von 16,7 % auf 12,1 % 2011 bzw. 12,9 % 2014. Die Chance mit Hauptschulabschluss in duale Ausbildung zu wechseln, liegt – mit Schwankungen über die Jahre – stabil bei 40 %.
Deutlich werden allerdings auch die erheblichen Unterschiede zwischen Bundesländern, die sogar eher zu- als abnehmen. In Hamburg gehen mit rund 88 %, in Sachsen mit 80 % bundesweit die meisten Schüler zu ganztägigen Schulen, in Bayern sind es 15 %. 2015 liegen zwischen den Bundesländern mit den besten und schwächsten Leistungsergebnissen 67 Punkte – mithin ein Rückstand von mehr als drei Schuljahren. Neuntklässler aus Berlin und Bremen bleiben zudem mehr als zwei Jahre hinter den Schülern in den umgebenden Flächenländern Brandenburg und Niedersachsen zurück. Die Hochschulreife erwerben in Hamburg 62,5 % und in Sachsen-Anhalt 38,1 % – dieser Abstand von 24 Prozentpunkten hat sich damit seit 2002 (17,6 Prozentpunkte) vergrößert. 2014 verlässt in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Berlin und Sachsen im Mittel fast jeder fünfte ausländische Jugendliche die Schule ohne Schulabschluss; in Brandenburg, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen sind es 8,7 %. Die Differenz zwischen den beiden Ländern mit höchstem und niedrigstem Anteil beträgt 23 Prozentpunkte:
In Brandenburg bleiben nur knapp 4 % ausländischer Schüler ohne Abschluss, in Sachsen hingegen rund 27%.
Bewertung: Der Chancenspiegel fasst bekannte statistische Zahlen unter spezifischen Gesichtspunkten zusammen. Die Gesichtspunkte – wie eine hohe Quote an Übergängen ins Gymnasium, am Erwerb der Hochschulreife oder an inklusiver Beschulung – haben allerdings ihre Problematik. Chancen können auch anders definiert werden, z. B. als optimale individuelle Potenzialentfaltung in allen Schulformen, auch in Hauptschulen und Förderschulen. Wichtig ist der Blick auf die anhaltende Herausforderung der Integration von ausländischen Kindern in das Schulsystem – immer noch knapp 13 % ohne Schulabschluss sind eine viel zu große Zahl – sowie der Fokus auf die Divergenzen zwischen den Bundesländern. Diese sind so erheblich, dass von einem bundesweiten Standard teils nicht gesprochen werden kann. Bei schulpolitischen Fragen ist daher immer der differenzierte Blick auf das Bundesland erforderlich.
Weitere Informationen finden Sie online unter: www.chancen-spiegel.de