20. Jahrestag Bosnienkrieg: Die Wahrheit muss ans Licht
Nichts erinnert in Omarska heute an die ermordeten Bosniaken. Rezak Hukanovic will das ändern. Nur knapp überlebte er 1992 das serbische Todeslager Omarska.
Rezak Hukanovic ist eine imposante Gestalt. Sein gefurchtes Gesicht, seine kräftige Figur und die tiefe Stimme verbreiten Autorität. Alle Blicke richten sich auf ihn, wenn er den Raum betritt. Kaum jemand käme auf die Idee, dass er einmal halbverhungert im Todeslager Omarska um sein Leben fürchten musste. Dass er zusammengeschlagen und schwer verletzt die Torturen fast nicht überlebt hätte.
„Zwanzig Jahre ist es nun schon her, als unser aller Leben aus dem Ruder lief“, erinnert er sich. Hukanovic war 1992 Radiojournalist in Prijedor, lebte glücklich mit seiner Frau und den beiden Söhnen zusammen. Doch mit einem Schlag wurde alles anders. Ende April 1992 hatten serbisches Militär und Zivilisten die Macht in Prijedor übernommen, das kaum ein Jahr zuvor demokratisch gewählte Stadtparlament aufgelöst und den Bürgermeister abgesetzt. Zunächst blieb jedoch alles ruhig. Hukanovic durfte allerdings wie alle anderen Muslime und Kroaten nicht mehr arbeiten.
Er blieb jedoch gelassen. „Der Sturm würde schon vorüberziehen, dachten wir damals.“ In Bosnien hatte das multinationale Zusammenleben eine lange Tradition. Wenige Monate zuvor wäre niemand auf die Idee gekommen zu fragen, welche Religion jemand hat. In dem Haus seines Cousins wohnten orthodoxe Serben und katholische Kroaten, in der Stadt waren ohnehin katholische Katholiken und muslimische Bosniaken in der Mehrheit, beruhigte er sich.
Doch am 30. Mai 1992 splitterte plötzlich die Tür. Serbische Milizionäre stürmten herein, Pistolen und die Kalaschnikow im Anschlag. „Sie zwangen mich mitzukommen.“ Ihm würde nichts passieren, nur eine Kontrolle, erklärten sie. In einem Raum der Polizeistation saßen zusammengepfercht an die hundert Männer. Viele kannte er, Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte und Kommunalpolitiker – die muslimische und katholische Führungsschicht der Stadt. Einzeln wurden sie zum Verhör geführt, erzählt er. Zurück kamen blutende und völlig verstörte Männer.
Dann fuhr ein Bus vor und brachte sie fort. Nach einer Stunde erreichten sie ein Lager im Erzbergwerk Omarska. Es war mit Hunderten bewaffneter Serben gesichert. Kaum angekommen, mussten die Gefangenen durch ein Spalier gehen, wo Milizionäre auf sie einschlugen. Auch sein 16-jähriger Sohn musste dies mehrere Tage über sich ergehen lassen.
Ein Klumpen aus Fleisch und Blut
Doch dies war nur das Vorspiel für ein zehnwöchiges Martyrium. In einem Raum mit Hunderten von Gefangenen sitzend, wiederholte sich jeden Tag die gleiche Prozedur: Die Gefangene wurden herausgerufen. Als sie zurückkamen, waren manche nur noch Klumpen aus Fleisch und Blut. Viele kamen gar nicht mehr zurück. Auch Hukanovic wurde mehrmals ins „Weiße Haus“ gebracht, wie das Folterzentrum genannt wurde.
Er hat es wohl seiner robusten Verfassung zu verdanken, dass er überlebt hat. „Mein Sohn Gott sei Dank auch.“ Wer aber ins „Rote Haus“ gerufen wurde, hatte sein Todesurteil erhalten. Über 3.200 Menschen sind in Omarska mit Dolchen, Pistolen, Knüppeln und anderen Werkzeugen ermordet worden, schätzt er.
Ende August 1992 wurden die Überlebenden zunächst in andere Lager und schließlich mithilfe des Roten Kreuzes nach Kroatien außer Landes gebracht. Dann wurden er und seine Familie von Norwegen als Flüchtlinge aufgenommen.
Noch heute weiß er nicht, wie er diese Zeit überlebt hat. „Ich weiß nur, dass ich mir das alles von der Seele schreiben musste.“ Für sein 1996 in Englisch erschienenes Buch über seine Gefangenschaft, „The Tenth Circle of Hell“, hat Elie Wiesel, Holocaustüberlebender und Friedensnobelpreisträger, das Vorwort verfasst. Das Buch hat viele Leser zutiefst erschüttert.
1998 kehrte er in seine Heimat zurück. Er wohnt sogar wieder in seinem Dorf nahe Prijedor. Die vor dem Krieg rund 100.000 Menschen zählende Stadt und sein Dorf sind mit dem Abkommen von Dayton 1995 der serbischen Teilrepublik, der Republika Srpska, zugesprochen worden. Vor dem Krieg waren orthodoxe Serben und muslimische Bosniaken ungefähr gleich stark vertreten. Die katholischen Kroaten machten rund 6 Prozent aus.
In seinem Beruf als Journalist arbeiten kann er hier nicht mehr. Nichtserbische Rückkehrer haben es schwer, in der Republika Srpska Arbeit und Auskommen zu finden. Obwohl gesetzlich dazu verpflichtet, einen Proporz einzuhalten, stellen die staatlichen und städtischen Verwaltungen, Medien und Betriebe nur sehr wenige nichtserbische Rückkehrer ein. Sollte jedoch ein Bosniak in Prijedor einen Betrieb, ein Hotel oder ein Restaurant eröffnen, was möglich ist, muss er mindestens 50 Prozent Serben beschäftigen.
„Eine Art Apartheid“
Rezak Hukanovic ist gegen diese Ethnopolitik. Er tritt für das friedliche Zusammenleben von Menschen ein. Die Regularien der Republika Srpska hält er für diskriminierend. „Das ist eine Art Apartheid, die im April 1992 ihren Anfang nahm.“ Hukanovic ist 1998 zurückgekommen. Doch seine Familie lebt weiterhin in Norwegen. „Meine Söhne haben dort Arbeit gefunden. Sie kommen nur zu Besuch.“
Zwar tritt er ab und an die lange Fahrt nach Norwegen an, doch er bleibt nicht lange. „Aushalten kann ich es dort nicht.“ Er will Prijedor nicht aufgeben. Er hat sich hier ein neues Leben organisiert und in dem kaum 30 Kilometer entfernten Städtchen Sanski Most, das im bosniakisch-kroatischen Teilstaat liegt, ein viel besuchtes Café eröffnet. Vom Café geht es zu den Räumen der lokalen privaten Fernsehstation. Hukanovic ist nebenbei auch Journalist geblieben. Mit seinen Programmen erreicht er auch Prijedor. Rezak Hukanovic will nicht resignieren. Und er steht nicht allein.
Entlang der Strecke von Sanski Most nach Prijedor fließt der zu dieser Jahreszeit reißende Fluss Sana. Der Blick auf das grünliche Wasser, die Weiden, die schon mit Vorfrühlingsblumen durchsetzten Wiesen, die blühenden Obstbäume in dieser sanften und fruchtbaren Landschaft – all das ist eine wohltuende Abwechslung zu den Gesprächen über die Vergangenheit.
Kurz vor Prijedor tauchen viele neue Häuser auf. „Die waren alle zerstört, niedergebrannt.“ Die Vertriebenen haben nach 1999 ihren Besitz zurückerhalten und mit dem Geld, das sie im Ausland verdienten, die Häuser schöner und größer wiederaufgebaut. „Im Sommer kommen sie zurück, dann ist hier viel los“, sagt Sudbin Music. Der 38-Jährige hat die Zerstörung seines Dorfs Carakovo, die Metzelei, bei der hier 1.800 Menschen ermordet wurden, darunter die meisten Mitglieder seiner Familie, als Jugendlicher überlebt. Und Music ist hiergeblieben und hat für jene 1.200 Menschen Grabstätten angelegt, die in Massengräbern gefunden und deren Identität inzwischen durch DNA-Vergleiche nachgewiesen wurde.
Als wäre nichts gewesen
Die Fahrt endet beim Erzbergwerk Omarska, dreißig Kilometer östlich von Prijedor. Heute gehört es zum indisch-britischen Stahlkonzern ArcelorMittal. Vor zwanzig Jahren war es noch in Staatsbesitz. Das „Weiße“ und das „Rote Haus“ werden vom Unternehmen benutzt, als wäre nichts gewesen. Außenstehenden ist der Zutritt verboten. Nicht einmal eine Gedenktafel dürfen die überlebenden Opfer anbringen. „Wir kämpfen um eine Gedenkstätte“, sagt Hukanovic.
Quelle: TAZ (05.04.2012). URL: http://www.taz.de/20-Jahrestag-Bosnienkrieg/!90950/